Abstract:
Die Mannheimer Multihalle war ursprünglich lediglich als temporäre Konstruktion für die Bundesgartenschau vorgesehen, sie steht aber heute nach mehr als 35 Jahren immer noch. Zu Unrecht hat sie bisher nicht dieselbe Wertschätzung erfahren wie die Olympiadächer in München aus dem Jahr 1972. Frei Otto nutzte mit der Multihalle die Chance, nach den nicht immer konfliktfreien Entwicklungen der Dachkonstruktionen für München, eine Leichtkonstruktion mit großer Spannweite zu realisieren, die ohne aufwendige Fundamente und Stützen funktioniert, die er an den Münchner Bauten immer wieder kritisiert hatte. Für den Vorentwurf modellierten die Beteiligten – das Architekturbüro Carlfried Mutschler und das Atelier Frei Otto in Warmbronn – ein Drahtnetz in die frei geformte Landschaft des Gartenschaugeländes. Die amorphe Gestalt überdachte einen multifunktionalen Raum für Veranstaltungen sowie ein Restaurant. Frei Otto schlug als Konstruktion eine Gitterschale aus Holzlatten vor, also eine materialminimierte Leichtkonstruktion. Um die Form der Schale zu definieren, wurde in Frei Ottos Atelier in Warmbronn nach Vermessung des Vorentwurfsmodells ein großes Hängemodell gebaut, das auf dem Umkehrprinzip basiert: Die Form des hängenden Netzes entspricht der idealform einer aufrecht stehenden Konstruktion. Die Kettenlinien des Hängemodells ergeben die Stützlinien der gewölbeartigen Gitterschale. Da im Hängezustand des frei beweglichen Netzes nur Zugkräfte auftreten, sind nach der Umkehrung der Gitterschale lediglich Druckkräfte zu erwarten. Das Gitternetz des Hängemodells wurde von Hand aus 15 Millimeter langen Kettengliedern und Ringen mit einem Durchmesser von 2,5 Millimetern hergestellt. Um den Aufwand zu reduzieren, wurde nur jede dritte Masche der späteren Gitterschale dargestellt. Das Knüpfen erfolgte in einzelnen Teilen, die an einem provisorischen Rahmen aus Balsaholz aufgehängt wurden. An diesem Modell wurde die Form der Gitterschale ermittelt. So ergab sich beispielsweise die halbkuppelförmige Aufweitung der Eingänge aus der Selbst-Formfindung des Modells. In einem weiteren Arbeitsschritt wurde dieses Modell vom Institut für die Anwendung der Geodäsie im Bauwesen der TH Stuttgart unter Klaus Linkwitz fotogrammetrisch vermessen, das heißt man fotografierte das Modell von oben aus zwei unterschiedlichen Blick winkeln und erzeugte auf diese Weise ein digitales räumliches Modell. An diesem wurde dann die Form des Lattengitters errechnet. Vor allem in den Randzonen mussten die teilweise starken Knicke ausgeglichen und die im Hängemodell fehlenden Knotenpunkte ergänzt werden. Die mit einem Großcomputer CDC 6600 erstellten Daten konnten mit einem sogenannten „Zeichenautomaten“ ausgegeben werden und dienten als Grundlage für die Werkplanung, also unter anderem für den Zuschnitt der Latten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren weltweit nur zwei weitere Holzgitterschalen errichtet worden. Eine Versuchsschale auf der Deutschen Bauausstellung 1962 in Essen, und die Überdachung des Vortragssaals im Deutschen Pavillon auf der Expo im Jahr 1967 in Montréal. Um eine Vorstellung vom Tragverhalten der Konstruktion zu gewinnen, bauten die Ingenieure vom Büro Ove Arup & Partners ein erstes statisches Messmodell nach Vorlage der Versuchsschale in Essen. Das Modell im Maßstab 1:16 bestand aus schmalen Plexiglasstreifen, die an den Knotenpunkten mit nadeln verbunden waren. Daran wurden Belastungstests mit eingehängten Nägeln durchgeführt. in der Folge wurde ein Modell der Multihalle im Maßstab 1:60 hergestellt, um die deutlich schwierigere Geometrie des Mannheimer Entwurfs zu testen. Daran konnten Verformungen mithilfe von Messuhren ermittelt werden. Die Versuche ergaben, dass der Einbau von Zuggliedern (Stahlseilen) und die Aufdoppelung des Gitternetzes erforderlich waren. Da die amorphe Form nicht mit den gängigen Vorschriften für die Windlasten berechnet werden konnte, führte die British Hydrodynamics Research Association Windkanalversuche durch. Hierfür wurden mehrere geometrisch ähnliche Messmodelle gebaut, die mit 150 Messröhrchen ausgestattet waren, die an ein Manometer angeschlossen wurden. Damit konnten Winddruck und -sog bei unterschiedlichsten Windrichtungen und -stärken ermittelt werden. Um Details der Gitterkonstruktion zu entwickeln, wurden mehrere Modelle im Maßstab 1:5 gebaut, die den Planungsstand des einlagigen Gitterrostes zeigen. Teile der Konstruktion wurden sogar im Maßstab 1:1 errichtet: Das größte der Modelle hatte eine Fläche von 80 Quadratmetern und diente in der Firma Koitwerk H. Koch in Rimsting dazu, das Verlegen der Dachhaut zu testen und die Handwerker einzuweisen. Auch der Versuchsaufbau für die Brandprüfung bestand aus einem knapp fünf Quadratmeter großen Teil der Dachkonstruktion. Im Winter 1974/75 konnte schließlich die Gitterschale über den Fundamenten aufgerichtet werden. Die Ingenieure vom Büro Ove Arup & Partners diskutierten zuvor anhand eines Modells im Maßstab 1:60 die verschiedenen Möglichkeiten zur Aufrichtung der Schale. Man entschied sich dafür, das flach ausgelegte Gitter mithilfe von Gabelstaplern und Gerüstelementen nach und nach in die endgültige Position zu heben. Der Prüfingenieur Fritz Wenzel von der Technischen Hochschule Karlsruhe forderte nach Fertigstellung der Konstruktion einen Belastungstest. Am 30. Januar 1975 wurde das Dach der Multihalle zu seinem eigenen 1:1-Mess-modell: 205 Mülltonnen, die an der Gitterschale hingen, wurden zur Simulation von Schneelasten mit Wasser befüllt. Die Messungen ergaben, dass die Schale 79 Millimeter nachgab. 80 Millimeter Durchbiegung waren errechnet worden. (Christiane Weber) aus: Oliver Elser, Peter Cachola Schmal: Das Architekturmodell – Werkzeug, Fetisch, kleine Utopie, Ausstellungskatalog DAM, Zürich 2012